3.12.2007 Andreas Wiehls Beitrag zur Erzähl-Hommage im Bürgerhaus Dietzenbach

Andreas Wiehls Beitrag zur Erzähl-Hommage

im Bürgerhaus Dietzenbach am 13.Dezember 2007:

 A wie Arbeitserlaubnis Valeri wurde amtlich ausweislich bestätigt, dass er in Deutschland ausschließlich in der Kunst Arbeit aufnehmen dürfe. In anderen Bereichen war ihm die Arbeitsaufnahme nicht gestattet. Ausschließlich künstlerische Arbeit war ihm gestattet. Verzeihung für die Wiederholung, aber mir ist keine zweite derartige Einschränkung bekannt.

A wie Auto Das Auto war für Valeri mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es war Symbol von Freiheit und Unabhängigkeit. Valeri hat, solange ich ihn kenne, immer ein Auto gefahren. Grundsätzlich alte Kutschen. In ihnen transportierte er sich, seine Freunde und seine Malerei. Er reparierte alles selbst. Er liebte seine Autos wie andere ihren Balkon; dazu gehörte auch ihre zeitweise Bepflanzung mit Zwiebeln und Efeu. Valeri bezog niemals Sozialhilfe, deren Bezug den Besitz eines eigenen Autos nicht zugelassen hätte.

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D wie dämonistisches System Ein Gesellschaftssystem, das von oben her nicht stimmt, wie Valeri es in der Sowjetzeit es erlebt hat. Die Formulierung des Begriffs setzt erhebliche philosophische Arbeit und Einsicht voraus. Die Namensfindung, die das Unheil benennt, hebt es damit noch nicht auf, natürlich, aber sie befreit den Einzelnen aus der persönlichen Schuld für das, was er nicht zu verantworten hat. Das ist eine nicht zu unterschätzende Basis für individuell freies Arbeiten. Der Begriff müsste im philosophischen Club gefunden worden sein, dem Valeri in Kovel angehörte.

D wie deutsche Sprache Es gehört zum Phänomen Valeri, dass ein gebildeter Mensch wie er trotz mehr als 15 Jahren Aufenthalt im Land nur ein gebrochenes Deutsch spricht. Man kann das mangelnden Respekt vor seinem Gastland nennen. Was sind die Gründe hierfür? Schließlich konnte Valeri auch komplexere Zusammenhänge differenziert vermitteln. Valeri hatte eine Art Metasprache entwickelt. In dieser gab es einige Zentralbegriffe, wie sie teilweise in diesem Alphabet angeführt sind. Die galt es aber mental zu begreifen, mit Händen und Füßen. Seine sprachliche Beschränkung war Mangel und System zugleich.

E wie Ekstase Ekstase war ein zentraler Moment in Valeri’s Leben. Kunst in Ekstase, Frauen in Ekstase. Religiöse Ekstase. Ekstase war mehr als eine Pfeife, die man sich ansteckte, sondern höchstes Freiheitserleben. Ein zentraler Angelpunkt seiner Kunst und seiner Philosophie. In der Ekstase lösten sich die Gedanken auf, unter denen Valeri, und nicht nur er, litt. Hier wurde, wenigstens zeitweise, ein neues Land betreten, in denen die Standesunterschiede nicht mehr galten, wo alle Menschen gleich waren.

F wie Frauen Valeri liebte Frauen.

G wie Gespräch “Was sprechen die?” sagte Valeri mir einmal mit Blick durch das Fenster in die Lissabon-Bar. An jedem Tisch eine Kerze und Menschen, die aufeinander einsprachen. “Was haben die zu besprechen? Sie müssten malen, oder tanzen oder Liebe machen. Wir müssen das organisieren. „Sie haben nichts zu bereden, und das wenige, das sie bereden, reden sie fest.“

H wie Heimat Eine Bilderausstellung in der Münchner Lukaskirche trug den Titel Heimat. Ekstase ist ein Hochgefühl, kann aber keine Heimat sein. In seiner Heimat Ukraine fürchtete Valeri Verfolgung. Weder die kommunistische Ideologie noch der Glaube seines Vaters konnten für Valerie geistige Heimat sein. Seine eigene Philosophie ließ ihn den Zustand der Heimatlosigkeit begreifen und so aushalten. Sein Ideal, das er anstrebte, war die Staatenlosigkeit. Valeri wollte nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Die einzige Heimat, mit der Valeri nie gebrochen hatte, war seine Mutter.

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K wie Kaffee Nur wenige Töpfe wurden sooft gebraucht, wie der Kaffeetopf. Das Pulver wurde mitgekocht, der Kaffee abgegossen. Viel Zucker, keine Milch. Einmal vermengte er Kaffee mit Rotwein. Das mache man in Sibirien so.

K wie KGB Valeri hatte zeitweise Kontakt zum KGB. Hierüber sprach er fast nie. Seine Paranoia dürfte ihre Wurzeln in dieser Verstrickung haben. Soweit ich ihn verstanden habe, hatte er sich von diesem dunklen Kapitel seines Lebens trotz angedrohter Schwierigkeiten losgesagt.

K wie Kleider Nur wenige Menschen besaßen so viele Kleider wie Valeri, ich glaube, nicht einmal Moshammer konnte da mithalten. Valeri hatte ein unglaubliches Gespür für Kleidersäcke. Hinter einer Hauswand versteckt, fühlte Valeri sie. Ich erinnere mich, einmal auf dem Boden seiner Wohnung in der Emil-Riedel-Straße in München buchstäblich einen Kleiderberg durchwatet zu haben. Und er behielt nur das Beste, war oft fürstlich gekleidet. Meinem Stiefvater hatte er ein Sakko geschenkt, nachdem es ihm gefiel.

K wie Kreisverwaltungsverrat Das KVR war Valeris ständiger Begleiter. Was für uns ein notwendiger Verwaltungsapparat ist, war für Valerie ein Ort oft erlebter Willkür. Einmal wurde er vorgeladen, um seine Aufenthaltsverlängerung abzuholen. Statt deren Aushändigung wurde sein Ausweis eingezogen und seine nahende Ausweisung angekündigt. Es war das erste mal, wo ich Valeri buchstäblich sprachlos erlebt habe, physisch sprachlos. „Kreisverwaltungsverrat“ war ein bewusst so belassener Versprecher, phonetisch noch abgekürzt als „Kreisverrat“.

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N wie Nomenklatura Die Nomenklatura war für Valeri der eigentliche Machthaber im Sowjetsystem. Eine Art abstrakter Diktatur, die unabhängig von einem persönlich schuldigen Machthaber funktionierte. Sie ist das ideologische System mit dem entsprechenden right thinking. Sie erzeugt das dämonistische System, wie das Ei das Huhn,.

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P wie Paranoia Valeri war seine eigene Paranoia wohl bewusst. Aber er konnte ihr nicht ausweichen. In der ukrainischen Bar in München wurde er einmal von einem Unbekannten angesprochen, man könne ihm die Zunge abschneiden, falls er spreche. Als er die Bar verließ, sein Auto aufzusuchen, fand er einen Reifen zerstochen vor.

P wie Petition oder Präzedenzfall Wir hatten eine Petition für Valeri im Bayerischen Landtag eingebracht. Ziel war es, ein Aufenthaltsrecht für einen Menschen zu erwirken, der unter schwierigen Umständen (Asylbewerberstatus) hier lebte, auf den Bezug von Sozialhilfe verzichtete, die Strukturen unseres Arbeitsmarktes nicht belastete, sondern Kraft seiner Phantasie ein eigenes Arbeitsfeld hier aufbaute und damit positive Impulse für die Gesellschaft setzte, einem solchen Menschen also ein Bleiberecht zu zusprechen. Er stelle eine Bereicherung für das Land dar. Ein solcher Präzedenzfall wäre nicht zu befürchten, sondern vielmehr zu wünschen. Die Petition wurde leider abgelehnt.

P wie philosophischer Club Valeri hat oft von einer kleinen Gruppe von Künstlern gesprochen, der er damals angehörte.

P wie Porträt Valeri malte (!) eine Unzahl großformatiger Porträts. Meistens auf dem Münchner Marienplatz an einer Staffelei, Größe DIN 1 oder größer. Er malte nach Wunsch: expressiv, impressionistisch, abstrakt, Es müssen an die 5000 gewesen sein, in seiner Münchner Zeit. In der Regel „verkaufte” er ein Porträt für zehn Mark als Spende. Verkauf war ihm nicht gestattet. Er malte alle Persönlichkeiten aus Politik und Kultur oder Alkoholiker, die er oft wegen ihrer Farbigkeit malerisch liebte. Bei den Letztgenannten war bisweilen er es, der den Preis für das Kunstwerk entrichtete.

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R wie Rheuma Im Pasinger Asylbewerberheim hatte Valeri das Privileg, einen eigenen Raum für sich alleine nutzen zu können. Es war Wohnzimmer und Atelier zugleich. Möglich wurde die Gewährung dieses Privilegs durch seine Lage: im Keller. Hier bekam er Rheuma.

S wie Sozialhilfe War es Stolz, war es der eigene Autobesitz, aber Valeri bezog zu keiner Zeit Sozialhilfe. Es hätte auch seinem Unabhängigkeitsstreben widersprochen. Dies war eine wesentliche Voraussetzung für seinen Kampf um ein Bleiberecht in Deutschland auch als nicht anerkannter Asylsuchender.

S wie Spielplatz In Kovel, ca. 100 km von Tschernobyl entfernt, befindet sich ein großer Spielplatz, den Valeri konstruiert und bildhauerisch ausgestaltet hat. Das freie Kinderdenken in Märchen und mythischen Figuren lag Valeri. Diese Neigung hat Felix von Solemacher, Leiter des Asylbewerberheimes in München-Pasing, gekannt und mit Valeris Hilfe dort einen Kinderspielplatz auf dem Hinterhof errichtet. Mir ist keine zweite Initiative dieser Art in diesen Einrichtungen bekannt.

T wie Tragödie Es gibt 3 Kinder von Valeri. Sie leben in den Vereinigten Staaten. Seine Frau, die der Pfingstlergemeinde noch immer angehört, hat sich aus Glaubensgründen von Valeri losgesagt. Valeri hat seine Kinder einmal in den Staaten besuchen können. Er konnte die Fremdheit nicht überwinden. Das bezeichnete er als seine persönliche Tragödie. Er sprach selten darüber.

T wie Timofej,

Väterchen Timofej Wassiljewitsch Prochorow
Die Ost-West-Friedenskirche in München

Timofej Wassiljewitsch Prochorow, genannt Väterchen Timofej (russ. Тимофей Васильевич Прохоров, wiss. Transliteration Timofej Vasil’evič Prochorov; * vermutlich 22. Januar 1894 in Bohajewskaja am Don (Russland); † 13. Juli 2004 in München) war ein russischer Eremit in München.
Geboren in Russland, verdiente er sich im Zweiten Weltkrieg sein Geld in der Stadt Schachty damit, dass er für die besetzte Stadt Kohle ausfuhr. Die deutsche Wehrmacht zwang ihn mit Hilfe seiner Kutsche die Flucht der deutschen Soldaten vor der Roten Armee zu unterstützen. Erst im Bezirk Rostow kam Timofej wieder frei. Väterchen Timofej berichtete später, er habe hier seine erste Marienvision gehabt.

Nach Jahren der Odyssee erreichte er Wien und traf dort seine spätere Frau Natascha. Der Bau einer Kirche in Wien scheiterte an den dortigen Behörden, sodass ihre Flucht weiter ging, bis sie 1952 in München ankamen.

Dort ließen sie sich am Oberwiesenfeld, dem heutigen Olympiapark, nieder und bauten zwischen Kriegsschutt neben einem kleinen Haus auch eine Kapelle, später dann eine kleine Kirche. Alle drei Gebäude wurden aus dem Schutt des zweiten Weltkriegs gebaut und bei der Einrichtung wurden größtenteils gefundene Materialien verwendet. Die Decke der Kirche wurde beispielsweise mit Schokoladenpapier “versilbert”. Jahrzehntelang lebten die beiden im stillen Einverständnis der städtischen Behörden in ihrem ohne Genehmigung gebauten Haus. Ende der sechziger Jahre wurde bekannt, dass die Sportstätten für die Olympischen Sommerspiele 1972 auf dem Oberwiesenfeld errichtet werden sollten und Väterchen Timofej und seine Lebensgefährtin daher aus ihrem kleinen Haus vertrieben werden sollten. Erst durch nachhaltigen Protest der Münchener Bürger und einiger Tageszeitungen wurde entschieden, dass das Olympiagelände etwas weiter nördlich verlegt wurde.
Die kleine Kirche wurde anschließend Ost-West-Friedenskirche genannt und gilt als eine der Sehenswürdigkeiten in München.
Oberbürgermeister Christian Ude nannte sie den „liebenswürdigsten Schwarzbau“ Münchens.

1972 heiratete Timofej seine langjährige Lebensgefährtin Natascha, die fünf Jahre später starb. Ihr Wunsch, neben der Kirche begraben zu werden, scheiterte an der Bürokratie. Wo sie liegen wollte, errichtete Timofej ein symbolisches Grab. Hin und wieder war er da zu sehen, Blumen aufs Grab legend oder betend. Bereits damals war er durch sein Alter (das nie vollends überprüft wurde) längst zum „Wahrzeichen von München“, „Olympia-Eremit“ oder „Methusalem vom Oberwiesenfeld“ geworden.

Seit 2002 lebte er aufgrund seiner schlechten Gesundheit hauptsächlich in Krankenhäusern und Altenheimen, wo er auch verstarb. Timofej war, mit zuletzt 110 Jahren, der älteste Münchner. Timofej’s Grab befindet sich auf dem Westfriedhof von München (Sektion 196, Nr. 45). Prochorow bestimmte acht Jahre vor seinem Tod den Russen Alexander Penkowski zu seinem Nachfolger.
Über das Leben von Väterchen Timofej wurde unter anderem ein Bildband und ein Kinderbuch veröffentlicht.

Valeri kannte und liebte Väterchen Timofej. Wenigstens dieser Ukrainer verwirklichte seinen Traum: spirituell und ohne Ausweis, siegte er über Bürokratie.

U

V wie Valeri

W

X

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Z wie Zinksarg Valeri’s Vater war Bischof der Pfingstler, einer christlichen Gemeinde oder Sekte. Er wurde inhaftiert, man wusste nicht, wo er war, bis den Angehörigen sein Tod mitgeteilt wurde. Der Zinksarg mit den sterblichen Überresten wurde zur Bestattung zugestellt. Er wa